Entdeckungsreise in die Nachbarschaft

Gerlinde und Ferdinand kommen jedes Jahr rund um Maria Himmelfahrt nach Unterretzbach zum „Treffen der Südmährer“ und bleiben dann für ein paar Tage im Haus meiner Eltern. Gerlinde wurde in Poppitz (heute Popice) – nur ein paar Kilometer von Unterretzbach entfernt – geboren und musste als kleines Mädchen nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester fliehen. Die Südmährer  –  die deutschsprachige Bevölkerung im südöstlichen Teil des Sudetenlandes  – wurden damals vertrieben und mussten ihre Heimat für immer verlassen. Wenn Gerlinde und ihr Mann heute zum Gedenktreffen der Heimatvertriebenen kommen, nützen sie die Zeit, um an die Orte aus Gerlindes Kindheit zurückzukehren.  Nach Schattau (Šatov), dem Geburtsort ihrer Mutter, nach Poppitz –(Popice), dem Wohnort der Familie und in die Dörfer der Umgebung. Dieses Jahr begleite ich die beiden auf eine ihrer Fahrten „ume“ (hinüber) in die Nachbarorte hinter der Grenze. Für mich ist es eine Entdeckungsreise. Obwohl nur wenige Kilometer von meinem Heimatort entfernt kenne ich die Dörfer nur vom „Hörensagen“. Schattau, Popitz und Konitz liegen abseits der Straße nach Znaim (Znojmo) und nie zuvor bin ich an einer der Kreuzungen abgebogen. Ich hatte keinen Bezug zu diesen Dörfern, sogar die Namen Popice und Konice waren mir bis vor kurzem unbekannt. Von Schattau wusste ich lediglich, dass mein Großvater und meine Großtante als Kinder immer zu Fuß dorthin ins Kino gingen. Ich wusste auch, dass mein Großvater († 2004) vor und nach der Grenzöffnung  bei jeder Gelegenheit nach Tschechien fuhr, doch ich wusste nicht, warum es ihn immer wieder „hinüberzog“. Und dann erzählte mir meine Tante Herta, seine Schwester, dass ihr Vater 1900 in Konitz geboren wurde und 1909 mit seinen Eltern nach Unterretzbach kam. Meine Vorfahren waren also auch Südmährer. Nun wollte ich mehr erfahren und Tante Herta erzählte mir, was sie noch wusste. Etwa, dass das Haus meiner Eltern früher im Besitz der Familie Mahr war. Das Ehepaar Mahr stammte, wie meine Ururgroßeltern aus Konitz, und verkaufte dort um die Jahrhundertwende (1900) Ihren Besitz, um sich nur ein paar Kilometer weiter in Unterretzbach anzusiedeln.  Meinen Ururgroßeltern hatten sie geraten, es ihnen gleich zu tun. Warum weiß heute niemand mehr. Jedenfalls kam auch die Familie Koller nach Unterretzbach und da das Ehepaar Mahr kinderlos blieb, vererbten sie ihr Haus an meine Urgroßeltern, die es wiederum an meine Eltern weitergaben.

Als 1945 die Südmährer aus ihren Häusern vertrieben wurden und mit dem bisschen Hab und Gut, das sie mit Händen tragen konnten, fliehen mussten, suchten einige von ihnen für ein paar Tage Zuflucht bei meinen Urgroßeltern. Unter ihnen auch Gerlinde mit ihrer Schwester Rosemarie und ihrer Mutter Gisela.

Mit Gerlinde und Ferdinand besuchen mein Vater und ich nun die Orte aus dieser Vergangenheit. Wir fahren in Mitterretzbach über die Grenze  und biegen nach der Ortschaft Hnanice rechts nach Schattau ab. Dort machen wir zunächst Halt am Friedhof, wo Gerlinde ein Grab ihrer Vorfahren besucht. Das Grab ist intakt, zwei Platten mit Inschriften zieren den Grabstein und sogar das Bild des jungen Mannes, der wie Gerlinde erzählt nach einem Bad in der Thaya an einer Lungenentzündung gestorben war, ist noch da. Manchmal, so sagt sie, frage sie sich selbst, wie dieses Grab den Krieg und die Jahre des Kommunismus unbeschadet überstehen konnte. War es doch über so viele Jahre verlassen. Sie gießt noch einmal eine Kanne Wasser über die frisch gesetzten Pflanzen und dann machen wir uns auf den Weg zu „Herrn Christl“, der sich ein wenig um das Grab hier kümmert. Gerlinde klopft an der Tür und eine Frau öffnet. Sie erkennt Gerlinde sofort und beginnt überschwänglich zu gestikulieren. Sie spricht kein Deutsch, wir kein Tschechisch. Dann greift sie zum Telefon, um ihren Mann schnell herbeizuholen, der scheinbar ganz in der Nähe ist. Wir wollten keine Umstände machen, doch Frau Christl lässt sich nicht abhalten. Sie bittet uns in die Küche und tischt im Nu einen köstlichen Kuchen auf. Ihr Mann kommt nur ein paar Minuten später zur Tür herein und freut sich über den Besuch. Herr Christl ging als Kind in die deutsche Schule und hat die Sprache trotz Kommunismus und Eisernem Vorhang nicht verlernt. Er spricht mit uns in unserem Dialekt und es macht Freude ihm zuzuhören. Er und seine Frau sind ein Beispiel gelebter Gastfreundschaft. Zu sechst sitzen wir um den Tisch und obwohl ich die beiden nie zuvor gesehen habe, fühle ich mich auf Anhieb wohl. So wie mein Großvater, der auf seinen früheren Reisen über die Grenze fast immer Halt beim „Christl“ gemacht hat. Gerlinde erzählt mir später, dass mein Großvater immer ein kleines Geheimnis um diese Besuche gemacht habe. Wahrscheinlich haben die beiden schwarzgebrannten Schnaps ausgetauscht  vermuten wir und schmunzeln. Mein Vater erzählt mir daraufhin, dass Opa zur Zeit des Eisernen Vorhangs oft mit dem Traktor am Feldweg entlang des Stacheldrahtes fuhr und eine Flasche Wein hinüber warf und ein paar Tage später auf seiner Seite ein Flasche Bier als Dankeschön fand.

Frau Christl bringt ein Album voller Familienfotos und zeigt mir stolz ihre Kinder und Enkelkinder während sie mich immer wieder auffordert doch noch ein Stück Kuchen zu probieren. Beim Durchblättern der Bilder entdecke ich auch ein Foto, das meine Großeltern bei einer gemütlichen Tischrunde zeigt. Dann geht die Fahrt weiter nach Poppitz, wo Gerlinde mir das Haus zeigt, das einst ihrer Familie gehörte. Es steht seit Jahren verlassen und vom Grundstück nebenan kann man noch einen Blick auf den Hof werfen. Wie es sich wohl anfühlt, vor dem Haus seiner Kindheit zu stehen? Auch wenn es der Familie nicht mehr gelang das Haus zurückzukaufen, so scheint es wenigstens vor dem Verfall gerettet zu sein. Carl Anton Postl sei Dank. Postl war der Sohn südmährischer Weinbauern und  wurde Ende des 18. Jahrhunderts in Poppitz geboren. Seine Kindheit verbrachte er in genau diesem Haus. 1823 flüchtete er dann in die USA und wurde dort unter dem Pseudonym Charles Sealsfield als Schriftsteller bekannt. Nun soll in seinem Geburtshaus in Poppitz ein Museum zu seinen Ehren entstehen. Charles Sealsfield? Auch von ihm hatte ich nie zuvor etwas gehört. Und nun bin ich beeindruckt von den Geschichten, die mich plötzlich umgeben. Geschichten von Menschen wie du und ich. Menschen, deren Leben oft ungeahnte Wendungen erfuhr.


    

Mein Höhepunkt unseres Ausflugs in die Vergangenheit ist der Besuch des Konitzer Friedhofs. Aus Konitz stammte die Familie meines Urgroßvaters, die 1909 nach Unterretzbach zog. Familie Koller. Ich laufe die Gräber entlang und lese ihre Inschriften. Ich sehe neue Gräber mit tschechischen Namen auf der rechten Seite und entdecke links ein paar alte Grabsteine, in die deutsche Namen gemeißelt sind. Auf einem Grabstein stehen die Namen Josef und Katharina Koller. Gestorben 1908 und 1922. Könnten das meine Urururgroßeltern gewesen sein? Oder ein Bruder, Onkel oder Cousin meines Ururgroßvaters? Was wurde aus der Familie und den Verwandten meiner Ururgroßeltern, die in Poppitz geblieben waren? Und was aus ihren Nachfahren? Welche Geschichten verstecken sich hinter den Namen auf einem alten Grabstein?

Nur allzu gerne würde ich mehr darüber erfahren. Doch wen kann ich heute noch fragen? Vielleicht mache ich mich ja bald wieder auf die Spuren der Vergangenheit …

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