Über den Tiefen der Schwalbenhöhle

In der Huasteca Potosina, der Wiege der Tenek-Kultur, finden sich raue Naturschönheiten, bizarre Kunstwerke und alte Traditionen

Wir stehen auf der Ladefläche eines kräftigen Geländewagens und bewegen unsere Körper im Takt der Serpentinenschlangen zur 40minütigen Fahrt vom kleinen, mexikanischen Dorf Aquismón hinauf in den Regenwald. Der Wind fliegt durch die Bäume und die Äste neigen sich über uns, sodass wir alle paar Meter die Köpfe einziehen müssen. Die Dämmerung ist nah, der Wagen fährt schneller. Die Natur kennt kein Erbarmen, wer zu spät kommt, verpasst das Ereignis. Schnellen Schrittes folgen wir den ortskundigen Kindern durch den Wald und stehen Minuten später abrupt vor einem riesigen, 55 Meter durchmessenden Loch mitten in der Erde. Die Sonne neigt sich immer mehr gen Westen und plötzlich erfüllt ein gellendes Kreischen die eintretende Nacht. Wir richten den Blick in den Himmel, die Augen gewöhnen sich nur langsam an die hereinbrechende Dunkelheit. Und dann, in Windeseile, jagen schwarze Punkte durch die Luft und stürzen sich in hohem Bogen in die tiefe, dunkle Schlucht. Diese dreht sich in Form eines umgekehrten Kegels über 500 Meter in den Abgrund und nimmt die tausenden Mauersegler und Grünsittiche über Nacht in ihren Schutz. Mit den ersten Sonnenstrahlen, die wages Licht in die “Schwalbenhöhle” tragen, verlassen die Vögel ihren Unterschlupf wieder und fliegen spiralenförmig in den Himmel.

Ihren Namen erhielt die Karsthöhle, die zu den größten der Welt zählt,  aufgrund der Ähnlichkeit von Schwalben und Seglern von den hier lebenden Tenek-Indianern. In und um das kleine Städtchen Aquismón zählen rund 80% der Bevölkerung zu dieser indigenen Gruppe, die seit 3000 Jahren in der “Huasteca Potosina”, der Region um die zentralmexikanische Stadt San Luis Potosí, lebt und bis in die Gegenwart (noch) Raum findet, um ihre traditionellen Lebensweisen im Einklang mit der Natur zu verwirklichen. Die Kultur der Tenek (“Ich bin auch von hier”) wird von Archäologen, die seit einigen Jahren intensiv die wiederentdeckten Ausgrabungsstätten Tamtoc und Tamohi erforschen, mittlerweile als eine der wichtigsten Kulturen Mesoamerikas betrachtet.

Die traditionellen Tenek leben heute zerstreut zwischen dem Dickicht des Regenwaldes und im Schutze der Berge der Sierra Madre Oriental, nah an Quellen, Flüssen und Grotten, wo sie weiterhin den Dialog mit ihren Göttern suchen. Besondere Aufmerksamkeit rufen sie während der Feierlichkeiten zum “Tag der Toten” hervor, dem Allerheiligen-Fest, das in der Huasteca als “Xantolo” begangen wird.

Vorbereitungen für "Xantolo"

In Tancanhuiz etwa bereiten die Tenek-Frauen in ihren rosa bestickten Gewändern eine Fülle von Gaben vor einem Altar aus grünen Zweigen und orangenfarbenen Totenblumen auf, während eine kleine Gruppe von Männern einen aufgestellten Baumstamm erklimmt und sich, befestigt an einem Seil, kreisförmig und kopfüber  zum Spiel der Flöten wieder zu Boden schwingt.

Viele der kühnen Naturschönheiten der Huasteca Potosina – wie die aus Wasser geschliffene Felsformation „Brücke Gottes“ oder die Wasserfälle „Tamul“ und Tamasopo – entfalten ihre rohe Eleganz inmitten selbstverwalteter Lebensräume indigener Gruppen und locken seit der Vermarktung eines sanften und nachhaltigen Tourismus immer mehr Naturliebhaber in die Region. Die heiligen Stätten der Ureinwohner ziehen auch die Besucher unwillkürlich in ihren Bann. Ihre Flüsse und Quellen versprühen Charme und Lebenselixier, die tosenden Wasserfälle demonstrieren Stärke und Entschlossenheit. Die Menschen öffnen sich und ihre Welt den Besuchern und zeigen ihnen ein Stück ihres Lebens. Die finanzielle Unterstützung erleichtert ihren Alltag, doch ihr größtes Anliegen ist der Schutz ihrer Umwelt und der Erhalt ihrer Selbstbestimmung.

Nach Xilitla – im Süden der Huasteca Potosina – hat es vor vielen Jahren den Aristokraten Sir Edward James verschlagen. Der exzentrische Schotte fand in der exotischen Vegetation der Umgebung, den idealen Ort für die Verwirklichung seines bizarren Lebenstraums. Auf einer Fläche von über 36 Hektar ließ er seiner künstlerischen Affinität zum Surrealismus freien Lauf und erbaute zwischen üppigen Urwaldriesen das „Schloss des Sir Edward James“ – einen surrealistischen Garten aus Skulpturen, Figuren und Bauwerken.

Kleine Wege und Treppen führen durch den Wald, vorbei an eigenwilligen Konstruktionen wie der „Stiege in die Unterwelt“ oder dem „3-stöckigen Haus, das 5 Stöcke haben könnte.“ Getrieben vom Ton herabstürzenden Wassers gelangt man schließlich an einen kleinen, kristallinen See, der einen 40 Meter hohen Wasserfall auffängt, der stufenweise über Felsplatten in die Tiefe stürzt.

Wasser ist eines der treibenden Elemente der Huasteca Potosina, einer Region, die ein „anderes“, großteils unbekanntes Mexiko zeigt, dass durch seine Ursprünglichkeit besticht und behutsam, Schritt für Schritt erkundet werden will.


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